Des Xaverl wars – Teil 5

So gingen Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, ja sogar Jahr für Jahr ins Land.

Eines Tages aber, es war schon im Jahr 1922, musste auch Xaver „seinen“ Bauernhof verlassen. Er hatte sich inzwischen gut eingelebt, er sprach fließend Russisch und er war der verwitweten Tochter des Bauern sehr zugetan und sie ihm. Aber es half nichts, die Kriegsgefangenen wurden alle aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. An seinem letzten Abend auf dem Hof gab es ein emotionales und tränenreiches Abschiedsfest und ihm wurde mehrfach versichert, dass er jederzeit gern wieder kommen könne, wenn es ihm vielleicht in Deutschland doch nicht gefallen würde. Hier würde ihm immer ein warmes Bett und eine warme Suppe gereicht, und er können jederzeit wieder seinen Platz als Beinahe-Sohn einnehmen.

Im März 1922 betrat er also wieder bayerischen Boden. Es war ein bedrückendes Gefühl, dort zu sein. Die Menschen waren verhärmt und verbittert, es war nichts von dem Enthusiasmus übrig geblieben, der zu Beginn des Krieges herrschte. Die Menschen hungerten, Verwundete des Krieges mussten bettelten, schrecklich entstellte Männer waren auf den Straßen zu sehen, manchen fehlte ein Bein oder beide, oder Arme, einige hatten auch Kopfverletzungen, die deren Gesicherter furchtbar entstellt hatten. Xaver betrachtete das mit einer Mischung aus Mitleid und Dankbarkeit dafür, dass er einerseits ohne Verwundung aus dem Krieg gekommen war und auch dafür, dass er es während seiner Zeit als Kriegsgefangener gar nicht so schlecht getroffen hatte.

Endlich, nach vielen Tagen, kam er am elterlichen Hof an. Dort wurde er nicht, wie Erwartet, voller Freude empfangen, sondern er fand eine mürrische und verbitterte Mutter und einen desillusionierten Vater vor. Sein Bruder Stephan fiel am 21. Juli 1916 und er galt seit Juni 1916 als vermisst. Somit haben sich seine Eltern in den letzten vier Jahren damit abfinden müssen, dass sie drei von fünf wehrfähigen Söhnen an diesen Krieg verloren hatten. Sein Bruder Jakob war auch vermisst, kam aber nach 13 Monaten im Oktober 1918 aus Gefangenschaft wieder nach Hause. Es hatte also niemand mehr Hoffnung, dass Xaver Gabriel mehr als drei Jahre nach Kriegsende noch am Leben sein könnte. Sein Auftauchen riss bei seinen Eltern die Wunden der Trauer um ihre verstorbenen Söhne erneut wieder auf. Erschwerend kam auch noch hinzu, dass er bei seinen Berichten über den Verlauf seiner Gefangenschaft nicht verheimlichen konnte, wie sehr es ihm im Grund in Russland gefallen hatte und wie sehr ihm auch die Tochter des Bauern zusagen würde. Er wollte seine Erfahrungen im landwirtschaftlichen Bereich auch in den Hof seiner Eltern einfließen lassen, das stieß aber bei seinem Vater auf gar keine Gegenliebe, wo käme man denn hin, wenn er, der lange nicht da war, jetzt auf einmal sagen wollte, wo es lang ging.

Von seinen Eltern und Geschwistern erfuhr er auch die neuesten Entwicklungen auf dem Hof Hinterkaifeck. Die Verurteilung und Bestrafung von Andreas Gruber und Viktoria Gabriel scheint keine tiefgreifende Änderung auf die beiden herbeigeführt zu haben. Nach wie vor war Viktoria die erste Spranistin im Chor und nach wie vor war Andreas Gruber in der Gemeinschaft der Gröberner und Waidhofer aufgenommen und angesehen, was auch seine Aufnahme in die Bürgerwehr bezeugte. Xaverl Gabriel war entsetzt darüber, er hatte sich das anders vorgestellt. Er wollte, dass die beiden leiden, weil sie seinem Bruder Karl soviel Unrecht angetan hatten.

Er wollte auch sehen, wie es Viktoria heute geht und dazu wartete er auf sie nach der Chorprobe am Ausgang des Friedhofs. Sie wollte mit den anderen Frauen mitgehen, er hielt sie aber auf und sagte, er wolle sie begleiten und mit ihr reden. Sie wies ihn aber ab. Darauf wurde er so wütend, dass er sie als Flittchen beschimpfte. Das quittierte sie mit einer Backpfeife, wendete sich entschlossen ab und ging unbehirrt und erhobenen Hauptes ihres Weges. Xaver war so verdutzt, dass er sich erst mal sammeln musste. Ihr nachlaufen wollte er nun aber ganz gewiss nicht, das hätte einerseits zu weiteren Eskalationen führen können und wäre ihm auch gegen die Ehre gegangen.

Nach dieser Begegnung dachte Xaver über sein weiteres Verhalten nach. Er war voller ambivalenten Gefühle gegenüber Viktoria. Er begehrte sie noch immer, sie war als gereifte Frau noch viel interessanter für ihn als als junges Mädchen. Andererseits entsetzte es ihn, dass sie einen illegitimen Sohn hatte – mit wem hatte sie es getrieben? Sie, die Witwe SEINES Bruders. Das machte man doch nicht – sie zog ja den Namen Gabriel mit in den Dreck. Seine Gedanken kreisten herum. Sie war so schön und so eine stolze Person. Schnell kam Xaver gedanklich auf die Ursache allen Übels – es war Viktorias Vater. Durch den Inzest hatte er sie gefügig gemacht. Ihr die Augen verschlossen für das, was richtig und falsch ist. Sie konnte nichts dafür, sie war ein Opfer. Sie musste gerettet werden. Und von da an war es nur noch ein klitzekleiner gedanklicher Schritt für Xaver, bis ihm klar wurde – natürlich, ER würde sie retten! Er würde sie heiraten, den Hof mit seinen neuen Ideen in eine rosige Zukunft führen (nicht, dass der Hof schlecht da stand, aber besser kann es ja immer werden), er würde seiner Nichte einen guten Mann suchen und auch den Bastard Josef weiter auf dem Hof dulden, er würde später einen guten Knecht geben. Auf dem elterlichen Hof hatte er nichts, er würde den Hof nicht überschrieben bekommen, das hat sein Vater ihm klipp und klar gesagt. Er würde also durch eine Heirat mit Viktoria ähnlich wie der Vater der immer noch angebeteten Viktoria, eine Bäuerin heiraten.

Das musste er mit ihr besprechen. In seiner Gedankenwelt stellte er sich vor, wie sie sich freuen würde, wenn er ihr diese wunderbaren Zukunftsperspektiven unterbreiten würde. Klar war aber, er musste sie sprechen, ohne dass ihr Vater dabei war. Und er musste sie überraschen, denn nach der letzten Begnung am Friedhof wird sie sich kaum freiwillig mit ihm treffen. Freitag Abend also schlich er sich von Laag nach Hinterkaifeck, im Hexenholz konnte man gut in Deckung bleiben. Er verschaffte sich Zugang in den Stadel und wartete dort geduldig, bis er im Stall Viktoria hören würde. Bestimmt versorgte sie die Kühe alleine, Andreas Gruber sah das immer schon als eine seiner unwürdige Arbeit und Viktorias Mutter war bestimmt inzwischen zu alt dafür.

Endlich hörte er sie. Er öffnete die Tür vom Stadel zum Stall und rief sie zu sich. Sie sah in wütend an, er flehte sie inständig an, er müsse mit ihr reden. Letztlich gab sie nach und folgte ihm in den Stadel. Dort bereitete er seine Ideen vor ihr aus und hielt nach der letzten Silbe gespannt den Atem an, wie sie reagieren würde. Würde sie ihn schüchtern anlächeln? Oder würde sie ihm voller Elan gleich um den Hals fallen? Ihn küssen?

Ihre Reaktion überraschte ihn, denn sie lachte. Sie lachte und lachte und lachte, bis sie wirklich Tränen lachen musste. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, was da ablief. Und dann grollte tief aus seinem Inneren eine unfassbare Wut heraus, eine Wut auf sie, auf ihre Familie, eine Wut auf alles und jeden. Die haben seinen Bruder unglücklich gemacht, die haben mit ihrem Verhalten seinen Bruder in den Krieg und damit in den Tod getrieben, die haben seine Mutter unglücklich gemacht, die haben seinem Vater übel mitgespielt, weil sie mit der Cilli eine potentielle Erbin auf den Hof seiner Eltern plaziert haben, die haben alles kaputt gemacht, was ihm jemals wichtig war. Und an erster Stelle der Schuldigen war dieses Flittchen Viktoria. Diese undankbare, verschlagene, notgeile Person. Er wurde so wütend, wie er noch nie in seinem Leben wütend war. Er wollte, dass sie mit dieser alberenen Lacherei aufhörte. Sofort sollte sie damit aufhören. Er ging auf sie zu und hielt ihr erst den Mund zu, aber sie lachte weiter und dann nahm er ihren schlanken, wohlgeformten Hals in seine starken Hände und drückte langsam zu. Schlagartig wurde ihr Lachen beendet, sie blickte ihn mit weit geöffneten erschreckten Augen an, bis letztlich ihr Blick brach und sie zu Boden sank. Währenddessen wurde die Tür zum Stall erneut geöffnet und die alte Frau Gruber stand in der Tür, überblickte kurz die Situation und begann zu zetern. Xaver griff nach dem nächstbesten Werkzeug, das an der Wand lehnte und schlug auf sie ein. Sofort sank sie tot zu Boden. Viktoria – inzwischen wieder langsam bei Bewusstsein, war gerade dabei, sich wieder aufzurappeln und so schlug er auch auf sie mit dem Werkzeug ein. Es war die Reuthaue des alten Grubers.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Um seinen Mord zu verdecken, tötete er nach und nach alle Bewohner von Hinterkaifeck. Kurz überrascht war er, als er sah, dass es eine Magd auf dem Hof gab, aber auch diese schlug er mit einem gezielten Schlag aus diesem Leben in die Ewigkeit.

Danach nahm er sich das Geld, das er auf die Schnelle fand. Er wusste, was er jetzt zu tun hatte – er musste verschwinden. Würden sie ihn fangen, würde er gehängt werden. So jung wollte er nicht sterben. Er verließ also klammheimlich Hinterkaifeck, packte heimlich seine Sachen in Laag ein und entschwand auch da ohne einen weiteren Gruß und machte sich auf den langen und beschwerlichen Weg zurück nach Russland.

Als der zweite Weltkrieg ausbracht, war er schon lange ein angesehener Bürger Russlands, er hat die Tochter des Bauern geheiratet und ein glückliches Leben geführt. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges diente er wieder in der Armee, diesmal natürlich auf russischer Seite. Und ein einziges Mal überkam ihn ein kurzer Moment der Melancholie, nämlich als ihn jemand aus der Gegend seiner alten Heimat auf Essen und Trinken ansprach. Diesem Menschen gegenüber bezeichnete er sich als „der Hinterkaifecker“ – obwohl er ja gerade das niemals war.

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