Kategorie: Hinterkaifeck

  • Mordfall Hinterkaifeck, Des Xaverl wars – Teil 5

    So gingen Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, ja sogar Jahr für Jahr ins Land.

    Eines Tages aber, es war schon im Jahr 1922, musste auch Xaver „seinen“ Bauernhof verlassen. Er hatte sich inzwischen gut eingelebt, er sprach fließend Russisch und er war der verwitweten Tochter des Bauern sehr zugetan und sie ihm. Aber es half nichts, die Kriegsgefangenen wurden alle aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. An seinem letzten Abend auf dem Hof gab es ein emotionales und tränenreiches Abschiedsfest und ihm wurde mehrfach versichert, dass er jederzeit gern wieder kommen könne, wenn es ihm vielleicht in Deutschland doch nicht gefallen würde. Hier würde ihm immer ein warmes Bett und eine warme Suppe gereicht, und er können jederzeit wieder seinen Platz als Beinahe-Sohn einnehmen.

    Im März 1922 betrat er also wieder bayerischen Boden. Es war ein bedrückendes Gefühl, dort zu sein. Die Menschen waren verhärmt und verbittert, es war nichts von dem Enthusiasmus übrig geblieben, der zu Beginn des Krieges herrschte. Die Menschen hungerten, Verwundete des Krieges mussten bettelten, schrecklich entstellte Männer waren auf den Straßen zu sehen, manchen fehlte ein Bein oder beide, oder Arme, einige hatten auch Kopfverletzungen, die deren Gesicherter furchtbar entstellt hatten. Xaver betrachtete das mit einer Mischung aus Mitleid und Dankbarkeit dafür, dass er einerseits ohne Verwundung aus dem Krieg gekommen war und auch dafür, dass er es während seiner Zeit als Kriegsgefangener gar nicht so schlecht getroffen hatte.

    Endlich, nach vielen Tagen, kam er am elterlichen Hof an. Dort wurde er nicht, wie Erwartet, voller Freude empfangen, sondern er fand eine mürrische und verbitterte Mutter und einen desillusionierten Vater vor. Sein Bruder Stephan fiel am 21. Juli 1916 und er galt seit Juni 1916 als vermisst. Somit haben sich seine Eltern in den letzten vier Jahren damit abfinden müssen, dass sie drei von fünf wehrfähigen Söhnen an diesen Krieg verloren hatten. Sein Bruder Jakob war auch vermisst, kam aber nach 13 Monaten im Oktober 1918 aus Gefangenschaft wieder nach Hause. Es hatte also niemand mehr Hoffnung, dass Xaver Gabriel mehr als drei Jahre nach Kriegsende noch am Leben sein könnte. Sein Auftauchen riss bei seinen Eltern die Wunden der Trauer um ihre verstorbenen Söhne erneut wieder auf. Erschwerend kam auch noch hinzu, dass er bei seinen Berichten über den Verlauf seiner Gefangenschaft nicht verheimlichen konnte, wie sehr es ihm im Grund in Russland gefallen hatte und wie sehr ihm auch die Tochter des Bauern zusagen würde. Er wollte seine Erfahrungen im landwirtschaftlichen Bereich auch in den Hof seiner Eltern einfließen lassen, das stieß aber bei seinem Vater auf gar keine Gegenliebe, wo käme man denn hin, wenn er, der lange nicht da war, jetzt auf einmal sagen wollte, wo es lang ging.

    Von seinen Eltern und Geschwistern erfuhr er auch die neuesten Entwicklungen auf dem Hof Hinterkaifeck. Die Verurteilung und Bestrafung von Andreas Gruber und Viktoria Gabriel scheint keine tiefgreifende Änderung auf die beiden herbeigeführt zu haben. Nach wie vor war Viktoria die erste Spranistin im Chor und nach wie vor war Andreas Gruber in der Gemeinschaft der Gröberner und Waidhofer aufgenommen und angesehen, was auch seine Aufnahme in die Bürgerwehr bezeugte. Xaverl Gabriel war entsetzt darüber, er hatte sich das anders vorgestellt. Er wollte, dass die beiden leiden, weil sie seinem Bruder Karl soviel Unrecht angetan hatten.

    Er wollte auch sehen, wie es Viktoria heute geht und dazu wartete er auf sie nach der Chorprobe am Ausgang des Friedhofs. Sie wollte mit den anderen Frauen mitgehen, er hielt sie aber auf und sagte, er wolle sie begleiten und mit ihr reden. Sie wies ihn aber ab. Darauf wurde er so wütend, dass er sie als Flittchen beschimpfte. Das quittierte sie mit einer Backpfeife, wendete sich entschlossen ab und ging unbehirrt und erhobenen Hauptes ihres Weges. Xaver war so verdutzt, dass er sich erst mal sammeln musste. Ihr nachlaufen wollte er nun aber ganz gewiss nicht, das hätte einerseits zu weiteren Eskalationen führen können und wäre ihm auch gegen die Ehre gegangen.

    Nach dieser Begegnung dachte Xaver über sein weiteres Verhalten nach. Er war voller ambivalenten Gefühle gegenüber Viktoria. Er begehrte sie noch immer, sie war als gereifte Frau noch viel interessanter für ihn als als junges Mädchen. Andererseits entsetzte es ihn, dass sie einen illegitimen Sohn hatte – mit wem hatte sie es getrieben? Sie, die Witwe SEINES Bruders. Das machte man doch nicht – sie zog ja den Namen Gabriel mit in den Dreck. Seine Gedanken kreisten herum. Sie war so schön und so eine stolze Person. Schnell kam Xaver gedanklich auf die Ursache allen Übels – es war Viktorias Vater. Durch den Inzest hatte er sie gefügig gemacht. Ihr die Augen verschlossen für das, was richtig und falsch ist. Sie konnte nichts dafür, sie war ein Opfer. Sie musste gerettet werden. Und von da an war es nur noch ein klitzekleiner gedanklicher Schritt für Xaver, bis ihm klar wurde – natürlich, ER würde sie retten! Er würde sie heiraten, den Hof mit seinen neuen Ideen in eine rosige Zukunft führen (nicht, dass der Hof schlecht da stand, aber besser kann es ja immer werden), er würde seiner Nichte einen guten Mann suchen und auch den Bastard Josef weiter auf dem Hof dulden, er würde später einen guten Knecht geben. Auf dem elterlichen Hof hatte er nichts, er würde den Hof nicht überschrieben bekommen, das hat sein Vater ihm klipp und klar gesagt. Er würde also durch eine Heirat mit Viktoria ähnlich wie der Vater der immer noch angebeteten Viktoria, eine Bäuerin heiraten.

    Das musste er mit ihr besprechen. In seiner Gedankenwelt stellte er sich vor, wie sie sich freuen würde, wenn er ihr diese wunderbaren Zukunftsperspektiven unterbreiten würde. Klar war aber, er musste sie sprechen, ohne dass ihr Vater dabei war. Und er musste sie überraschen, denn nach der letzten Begnung am Friedhof wird sie sich kaum freiwillig mit ihm treffen. Freitag Abend also schlich er sich von Laag nach Hinterkaifeck, im Hexenholz konnte man gut in Deckung bleiben. Er verschaffte sich Zugang in den Stadel und wartete dort geduldig, bis er im Stall Viktoria hören würde. Bestimmt versorgte sie die Kühe alleine, Andreas Gruber sah das immer schon als eine seiner unwürdige Arbeit und Viktorias Mutter war bestimmt inzwischen zu alt dafür.

    Endlich hörte er sie. Er öffnete die Tür vom Stadel zum Stall und rief sie zu sich. Sie sah in wütend an, er flehte sie inständig an, er müsse mit ihr reden. Letztlich gab sie nach und folgte ihm in den Stadel. Dort bereitete er seine Ideen vor ihr aus und hielt nach der letzten Silbe gespannt den Atem an, wie sie reagieren würde. Würde sie ihn schüchtern anlächeln? Oder würde sie ihm voller Elan gleich um den Hals fallen? Ihn küssen?

    Ihre Reaktion überraschte ihn, denn sie lachte. Sie lachte und lachte und lachte, bis sie wirklich Tränen lachen musste. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, was da ablief. Und dann grollte tief aus seinem Inneren eine unfassbare Wut heraus, eine Wut auf sie, auf ihre Familie, eine Wut auf alles und jeden. Die haben seinen Bruder unglücklich gemacht, die haben mit ihrem Verhalten seinen Bruder in den Krieg und damit in den Tod getrieben, die haben seine Mutter unglücklich gemacht, die haben seinem Vater übel mitgespielt, weil sie mit der Cilli eine potentielle Erbin auf den Hof seiner Eltern plaziert haben, die haben alles kaputt gemacht, was ihm jemals wichtig war. Und an erster Stelle der Schuldigen war dieses Flittchen Viktoria. Diese undankbare, verschlagene, notgeile Person. Er wurde so wütend, wie er noch nie in seinem Leben wütend war. Er wollte, dass sie mit dieser alberenen Lacherei aufhörte. Sofort sollte sie damit aufhören. Er ging auf sie zu und hielt ihr erst den Mund zu, aber sie lachte weiter und dann nahm er ihren schlanken, wohlgeformten Hals in seine starken Hände und drückte langsam zu. Schlagartig wurde ihr Lachen beendet, sie blickte ihn mit weit geöffneten erschreckten Augen an, bis letztlich ihr Blick brach und sie zu Boden sank. Währenddessen wurde die Tür zum Stall erneut geöffnet und die alte Frau Gruber stand in der Tür, überblickte kurz die Situation und begann zu zetern. Xaver griff nach dem nächstbesten Werkzeug, das an der Wand lehnte und schlug auf sie ein. Sofort sank sie tot zu Boden. Viktoria – inzwischen wieder langsam bei Bewusstsein, war gerade dabei, sich wieder aufzurappeln und so schlug er auch auf sie mit dem Werkzeug ein. Es war die Reuthaue des alten Grubers.

    Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Um seinen Mord zu verdecken, tötete er nach und nach alle Bewohner von Hinterkaifeck. Kurz überrascht war er, als er sah, dass es eine Magd auf dem Hof gab, aber auch diese schlug er mit einem gezielten Schlag aus diesem Leben in die Ewigkeit.

    Danach nahm er sich das Geld, das er auf die Schnelle fand. Er wusste, was er jetzt zu tun hatte – er musste verschwinden. Würden sie ihn fangen, würde er gehängt werden. So jung wollte er nicht sterben. Er verließ also klammheimlich Hinterkaifeck, packte heimlich seine Sachen in Laag ein und entschwand auch da ohne einen weiteren Gruß und machte sich auf den langen und beschwerlichen Weg zurück nach Russland.

    Als der zweite Weltkrieg ausbracht, war er schon lange ein angesehener Bürger Russlands, er hat die Tochter des Bauern geheiratet und ein glückliches Leben geführt. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges diente er wieder in der Armee, diesmal natürlich auf russischer Seite. Und ein einziges Mal überkam ihn ein kurzer Moment der Melancholie, nämlich als ihn jemand aus der Gegend seiner alten Heimat auf Essen und Trinken ansprach. Diesem Menschen gegenüber bezeichnete er sich als „der Hinterkaifecker“ – obwohl er ja gerade das niemals war.

  • War der Bäcker Bärtl in Hinterkaifeck?

    Eine etwas merkwürdige Geschichte

    Im Jahre 1919 wurde in Ebenhausen der Landwirt Adler vor seinem Anwesen überfallen, beraubt und so übel zugerichtet, dass er nach einigen Tagen starb. Zwei Brüder aus Nürnberg wurden für die Tat verantwortlich gemacht und landeten im Zuchthaus. Scheinbar gab es bei der Polizei eine Gegenüberstellung und Frau Adler erkannte in ihnen die Täter. Es kam aber ans Licht, dass die Frau ihren Mann loswerden wollte und ein gewisser Steinkohl und ein Bäcker Bärte(l) aus Geisenfeld den schweren Raub verübten.

    (Wasserburger Anzeiger, 12.03.1921)

    Der Rosenheimer Anzeiger berichtet am Dienstag 16. Dezember 1919 über die Tat. Vor einigen Tagen wurde der Gütler Thomas Adler in Ebenhausen in seinem Anwesen, dass er allein bewohnt, von zwei Burschen, die Nachfrage nach Eiern und Butter gehalten hatten, überfallen und zu Boden geschlagen. Als sie dem Bewusstlosen dass in einer Brusttasche verwahrte Bargeld rauben wollten, kam dieser zu sich und rief laut um Hilfe, worauf die Angreifer flüchteten. Adler hat zwölf Verletzungen am Kopf erhalten, die lebensgefährlich sind und von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand herrühren.

    Interessant wäre jetzt zu erfahren was Josef Bärtl mit der Tat in Hinterkaifeck zu tun hatte? Ging Josef Bärtl nach der Tat in Hinterkaifeck in die Fremdenlegion, wie die Münchner und Neuburger Mordermittler glaubten.

    Gesucht wird Josef Bärtl 1926

    Weil Josef Bärtl mit dem Räuber Philippi aus der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg geflohen ist, kann man ihn nicht als gefährlichen Raubmörder deklarieren.

    Raubdelikte heißt noch lange nicht Raubmord.

    Staatsanwalt Pielmayer sah dann eine ganze Räuberbande, es kam zu Verhaftungen, aber im Grunde nur falsche Vermutungen.

    Josef Bärtl Steckbrief 1927

    Internationale Öffentliche Sicherheit Wien bzw. IKPK (Commission Internationale de Police Criminelle) mit Sitz in Wien.1933 umfasste die Karteikartensammlung der IKPK bereits über 3.200 grenzüberschreitend agierende Kriminelle.

    Der Kaifeck-Mörder verhaftet?

    1932 wurde in Pfaffenhofen der Kaifeck-Mörder verhaftet, dass Gerücht erwies sich aber als falsch.

    Kaifeck Mörder verhaftet

    Wer aber soll es gewesen sein?

    Kaifecker Raubmörder

    Leider war es wieder nichts, nur der Bäcker-Bärtl ist seit dieser Zeit spurlos verschwunden. Vielleicht ist er ausgewandert?

  • Mordfall Hinterkaifeck, Des Xaverl wars – Teil 4

    Im Februar 1917 änderte sich für die Bauernfamilie einiges. Der Zar wurde gestürzt und eine provisorische Regierung übernahm die Macht. Alles geriet durcheinander, man wusste nicht, was kommen würde. Die Einstellung zu den Gefangenen seitens der Bewacher in den Gefangenenlagern kippte, teilweise betrachteten sie sie jetzt als Genossen (vgl. Wurzer, 2005, Seite 208). Auch die Situation der Gefangenen auf den Bauernhöfen veränderte sich, Xaver zum Beispiel musste ab sofort nicht mehr im Stroh schlafen, sondern durfte die Knecht Kammer nutzen (vg. Wurzer, 2005, Seite 364). Allerdings zerschlugen sich seine Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr in die bayerische Heimat. Die Versorgungslage in Russland wurde zusehend schlechter. Einerseits schien weder Geld noch die nötigen Eisenbahnen da zu sein, um die Gefangenen transportieren zu können und andererseits wurde jede Hand dringend gebraucht. Große Teile der Bevölkerung litten Hunger und die Gefangenen spielten auch eine wichtige Rolle als Arbeitskräfte für die russische Kriegswirtschaft (vgl. Nachtigal, 2003, Seite 214 ff.). Noch war der Krieg ja nicht zu Ende.

    Russischer wolhynischer Bauer

    So verging der Sommer und der Herbst begann. Mit ihm kam im Oktober dann die Oktoberrevolution. Was vorher alles provisorisch war, wurde nun gefühlt in Stein gemeißelt: Die Bolschewiki übernahmen die Macht, der Zar war schon abgesetzt und ab jetzt regierten die Arbeiter und Bauern – und Lenin. Es waren viele Hoffnungen für die einfachen Menschen mit diesem Machtwechsel verbunden, so auch für die Bauernfamilie, bei der Xaverl arbeitete. Aber eine Rückkehr in die Heimat schien für Xaverl in weite Ferne zu rücken, denn dem Land ging es schlecht und es brauchte jede helfende Hand, die es bekommen konnte.

    Literaturverzeichnis:

    • Nachtigall Reinhard, 2003, Russland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen (1914-1918), Verlag Bernhard Albert Greiner, Remshalden
    • Wurzer Georg, 2005, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, v & R Uni press, Göttingen
  • Mordfall Hinterkaifeck, Des Xaverl wars – Teil 3

    Nun hat ihn also der Krieg erwachsen gemacht, den Jüngling, der mit nicht mal 21 Jahren in russische Gefangenschaft geriet.

    Xaver Gabriel von der Veteranentafel Waidhofen

    Er kam auf einen kleinen Bauernhof, der „Panje“ hatte ihn vorher sorgfältig geprüft, seine Muskeln abgetastet und ihn als nützlich für seinen Bauernhof eingeschätzt. Xaver wurde auf dem Hof mitgenommen und weil er sich gut in der Landwirtschaft auskannte, konnte er umgehend mit der Arbeit beginnen. Nach einiger Zeit wurde er behandelt wie der eigene Sohn. Er bekam freie Kost und Logis und drei Rubel monatlichen Lohn. Die Arbeit war zwar schwer und viel, es wurde mit dem ersten Morgengrauen begonnen und endete erst nach Sonnenuntergang, aber es drohten keine Gefahren durch Seuchen oder die Willkür der Aufpasser wie in den Langern.

    Auf dem Bauernhof lebten der Bauer Andrej, seine Frau Jekaterina und die erwachsene Tochter Olga sowie die Enkelin Ljudmilla. Olgas Mann war im Krieg gefallen, ebenso wie ihr älterer Bruder, sie litt schrecklich unter beiden Verlusten. Ihr Töchterlein Ljudmilla war noch ein kleines Baby, sie war erst im April 1916 auf die Welt gekommen. Xaver zerriss es das Herz, wenn er die bleiche Olga mit verweinten Augen ihren Aufgaben nachgingen sah. So eine Frau, ja so eine Familie, hätte er sich für seinen Bruder Karl gewünscht, stattdessen hat die Schwiegermutter von Karl die Nachricht von seinem Tod mit „Jetzt ist die Scheidung schon da.“ kommentiert. Herzloses Gesindel, diese Hinterkaifecker. Die Eltern von Olga litten auch darunter, ihren einzigen Sohn verloren zu haben und noch mehr schmerzte es sie, ihre Tochter so leiden zu sehen. Und zu all dem war auf dem Hof viel Arbeit und es musste noch viel von Hand gemacht werden, wofür man in Bayern schon Motoren hatte. So mühte sich Xaver von frühmorgens bis spätabends redlich, soviel Arbeit wie möglich zu schaffen. Wenn er an die Hinterkafecker dachte, bekam er eine grenzenlose Wut, er schwor sich, eines Tages seinen Bruder zu rächen. Je wütender er war, desto kraftvoller packte er zu, er wurde kräftiger und kräftiger und war bald unersetzlich auf dem Bauernhof. Gleichzeitig lernte er fast wie von selbst die russische Sprache.

  • Mordfall Hinterkaifeck, Des Xaverl wars – Teil 2

    Xaver Gabriel hatte noch die Verurteilung von Andreas Gruber und Viktoria Gabriel erlebt, die im Mai 1915 ausgesprochen wurde. Als die beiden aber ihre Strafe antreten mussten, war er bereits in Frankreich an der Front. Von dort wurde er im April 1916 an die Ostfront in die Ukraine verlegt. Viktoria Gabriel hatte zu diesem Zeitpunkt ihre einmonatige Haftstrafe bereits abgesessen, Andreas Gruber war aber noch im Zuchthaus, das würde er erst im Januar 1917 verlassen dürfen.

    Diesen schmählichen Moment, wenn Andreas Gruber wieder in Freiheit sein würde, erlebte Xaver aber nicht mehr, denn er war in der Ukraine an den Kämpfen an den Flüssen Styr und Stochod beteiligt. Bereits am 10. Juni 1916 überschreiten die Russen den Styr und stehen drei Tage später am Stochad, südöstlich des strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunktes Kowel. Am 18. Juni 1916 gelingt es den Russen, Czernowitz zu erobern. Auch die Orte Kolomea, Delatyn und Stanislau müssen jetzt geräumt werden. (Quelle: Janusz Piekalkiewicz, 1994, Der erste Weltkrieg, Seite 381). Trotz intensiver Anstrengung der Russen, unterstützt von Tscherkessen und Kosaken, gelingt es nicht, Kowel zu erobern. Wer möchte, kann sich die verschiedenen Orte auf Google-Maps ansehen.

    In der Nähe der genannten Kriegsschauplätze, in Mlysk, gab es auch ein Gefecht. Es kämpften dort aus Bayern das kgl. bayer. 3. Infanterie-Regiment (Prinz Karl von Bayern), das kgl. bayer. 22. Infanterie-Regiment (Fürst Wilhelm von Hohenzollern) zusammen mit dem Reserve-Infanterieregiment 13, dem Xaverl Gabriel angehörte. Bei diesem Gefecht wurden von den Russen über 600 Gefangene gemacht, auch Xaver Gabriel war darunter. Die meisten deutschen Soldaten wurden nach Sibirien gebracht, meist ohne Bewachung – wer weglief, starb auf der Flucht an den widrigen Lebensumständen. Xaver Gabriel aber musste nicht nach Sibirien und dort im Berg- oder Straßenbau arbeiten. Seine umfangreichen Kenntnisse der Landwirtschaft verhalfen ihm zunächst zu einem Lagerplatz im westlichen Gebiet Russlands und einem Einsatz in der Landwirtschaft.

    Übersichtskarte Ostfront 1916

    Das Kreuz in dem Bild zeigt in etwa die Stelle, an der Xaver Gabriel seit dem 21.06.1916 vermisst wurde.

    Weitere Links zu dem Zeitgeschehen:

  • Mordfall Hinterkaifeck, Des Xaverl wars – Teil 1

    Eine weitere Theorie zu den bisher veröffentlichten könnte folgende sein:

    Er sah er sie jeden Sonntag in der Kirche und manchmal auf dem Feld bei der Arbeit, aber erst seit er ungefähr zehn Jahre alt war, fiel ihm auf, wie schön sie war: Viktoria Gabriel, die Nachbarstochter. Sie war gute acht Jahre älter als er, bereits eine Frau als er noch auf der Schwelle zum Mannsein stand. Ihre brünetten Haare hatte sie immer sonntags akkurat nach oben gesteckt und trug darauf einen schwarzen Hut. Ihr Sonntagsgewand hatte eine gute Passform und setzte die Vorzüge ihrer Brüste perfekt in Szene. Eng geschnitten schmiegte sich das Kleid nah an den flachen Bauch, um auf Taillenhöhe in ein üppig geschnittenes Rockteil über zu gehen, dass die Form des Beckens und die Konturen der Oberschenkel und der Kniee völlig verdeckte. Unterhalb des knöchellangen Rocksaumes konnte Xaverl die schlanken Fesseln Viktorias in den Schuhen mehr erahnen denn wirklich sehen. Er konnte ihr stundenlang zusehen, wie sich beim Singen – sie war die erste Sopranistin des Kirchenchores – ihre Brust beim Atmen hob und senkte. Und er hatte viel Gelegenheit, dies zu tun, denn er ließ sich oftmals einteilen, den Blasebalg für die Orgel zu betätigen. Das war zwar im Vergleich zu den Ministrantendiensten körperlich ungleich anstrengender und man war auch nicht im Abglanz des Altars, des Pfarrers, der heiligen Hostien und der glänzenden Monstranz, aber das war ihm egal, ihm war es Lohn genug, wenn er nur Viktoria verstohlen anstarren und bewundern durfte.

    So gingen die Jahre ins Land. Xaver träumte davon, eines Tages Viktoria heiraten zu können. Der Altersunterschied dabei schien ihm nicht so wichtig, war doch Viktorias Vater auch erheblich jünger als ihre Mutter. Er hatte, obwohl er inzwischen durchaus im entsprechenden Alter war, keine Augen für andere Mädchen seines Alters. Er hatte nur Augen für Viktoria. Nachts lag er wach in seinem Bett und malte sich die schönsten Erlebnisse mit seiner Angebetenen aus.

    Dann aber zerplatzten seine Tagträume wie eine Seifenblase. Nein, eigentlich mehr wie ein mit einer Nadel angestochener Luftballon, es tat in seinem Herzen einen lauten Knall. Viktoria – seine Viktoria – sollte die Frau seines Bruders Karl werden. Es waren eh zu viele Söhne auf dem Hof der Gabriels, da war es gut, wenn einer wegheiratete und ein eigenes Sach bekam und sein Bruder war nun mal älter als er und passte deswegen auch besser zur Viktoria. Sein Verstand konnte das gut nachvollziehen, aber sein Herz war schwer dabei. Immerhin konnte er aber auf die Weise seiner Viktoria als ihr Schwager nahe sein, das war immer noch besser, als wenn sie einen wildfremden Mann geheiratet hätte.

    So zog das Frühjahr 1914 ins Land und Xaver half, so oft es ihm möglich war, mit auf dem Hof der Hinterkaifecker, der seit der Heirat zur Hälfte auch seinem Bruder gehörte. Er stellte aber schon bald fest, dass das Leben dort auf Hinterkaifeck – insbesondere das Leben seines Bruders dort – in keinster Weise dem entsprach, wie er sich das Leben des Bauern dort vorgestellt hatte. Der Vater von Viktoria, Andreas Gruber, führte, obwohl der Hof schon überschrieben war, immer noch das Regiment. Das beinhaltete, dass er über alle Vorgänge auf dem Hof eigenmächtig entschied, die Fruchtfolge festlegte, das weitere Vorgehen bezüglich des Viehs bestimmte, die technische Ausstattung ohne sich mit den jungen Bauersleuten zu besprechen erweiterte und – und das war das schlimmste in Xaverls Augen – sich weiterhin an seiner Tochter verging. Zunehmend belastete es Xaverl, was sich dort abspielte. Einerseits schämte er sich für seinen Bruder Karl, der offenbar nicht das Zeug besaß, mal ordentlich auf den Tisch zu hausen und ein für alle Mal klarzustellen, wer jetzt hier der Herr im Haus war. Andererseits tat ihm Viktoria so unendlich leid, die hin und hergerissen war zwischen dem Wunsch, ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein und ihrem Vater eine gehorsame Tochter. Xaverl zog sich also mehr und mehr aus dem Hof von Hinterkaifeck zurück und schob immer öfter vor, daheim in Laag unabkömmlich zu sein.

    Aber auch an Karl gingen die Vorgänge nicht spurlos vorüber. Er wollte sogar eines Tages zurück nach Laag ziehen, denn er merkte, dass er sich nicht durchsetzen konnte. Damit waren aber seine Eltern ganz und gar nicht einverstanden, man hatte nicht viel Geld investiert, damit der Junge nicht besitzlos vor den Hinterkaifeckern da stand um es jetzt kampflos den Hinterkaifeckern zu überlassen. Karl fand aber eine gute Möglichkeit, sich dem Dilemma zu entziehen: er meldete sich freiwillig für den Kriegsdienst des gerade ausgebrochenen ersten Weltkrieges und war schon im August 1914 in einer Kaserne in Ingolstadt, fernab von allem Gerangel daheim. Im Dezember war seine Ausbildung abgeschlossen und er kam an die Front nach Frankreich, dort fiel er nur vier Tage später im Dezember 1914.

    Die Geburt seiner Tochter im Januar 1915 erlebte er nicht mehr, es ist nicht mal sicher, ob er wusste, dass seine Frau schwanger war. Sie hatte es ihm jedenfalls nicht mitgeteilt, sie hat ihm gar keine Feldpost geschrieben. Im Hause Gabriel herrschte alles andere als reine Freude über das Enkelkindchen, denn Xaverl hat natürlich daheim erzählt, welche Zustände auf Hinterkaifeck herrschten. Ein direkter Nachfahre von Karl Gabriel konnte die Erbfolge des Hofes von Laag durcheinander wirbeln. Wäre Karl Gabriel kinderlos gefallen, hätte seine Ehefrau seinen damaligen Besitz geerbt, aber niemand hätte seine Finger nach dem Erbe von Viktorias Schwiegereltern ausstrecken können. Dieses Kind aber, das hatte die Macht dazu. Aber als ob das alleine nicht schon schlimm genug war, nein, zusätzlich konnte man nicht mal mit Sicherheit sagen, ob das Kind tatsächlich auch aus Karl Gabriels eigenem Fleisch und Blut bestand. Ebenso gut wäre es nämlich möglich, dass Cäzilia Gabriel ein Produkt aus dem inzestösen Verhältnis ihrer Mutter und ihrem Großvater war.

    Karl Gabriel sen. sah sich gezwungen, dagegen anzugehen und zeigte Andreas Gruber und seine Tochter Viktoria Gabriel wegen Inzestes an. Bei der Gerichtsverhandlung sagte u. a. auch Xaverl Gabriel aus, was er auf dem Hof alles gesehen und erlebt hatte und dies reichte, um die beiden wegen Inzests zu verurteilen. Es reichte aber nicht, um Cäzilia Gabriel aus der Erbfolge der Gabriels aus Laag zu tilgen, denn ein ehelich geborenes Kind hat automatisch den Ehemann der Mutter zum Vater, unabhängig von genetisch tatsächlichen Gegebenheiten. Das ist übrigens bis zum heutigen Tage so, festgelegt im § 1592 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

    Unabhängig von all diesen persönlichen und privaten Unbilden drehte sich das Rad der Weltpolitik und damit des Weltkrieges unablässig weiter und so wurde 1915 auch Xaver Gabriel eingezogen.