Des Xaverl wars – Teil 1

Eine weitere Theorie zu den bisher veröffentlichten könnte folgende sein:

Er sah er sie jeden Sonntag in der Kirche und manchmal auf dem Feld bei der Arbeit, aber erst seit er ungefähr zehn Jahre alt war, fiel ihm auf, wie schön sie war: Viktoria Gabriel, die Nachbarstochter. Sie war gute acht Jahre älter als er, bereits eine Frau als er noch auf der Schwelle zum Mannsein stand. Ihre brünetten Haare hatte sie immer sonntags akkurat nach oben gesteckt und trug darauf einen schwarzen Hut. Ihr Sonntagsgewand hatte eine gute Passform und setzte die Vorzüge ihrer Brüste perfekt in Szene. Eng geschnitten schmiegte sich das Kleid nah an den flachen Bauch, um auf Taillenhöhe in ein üppig geschnittenes Rockteil über zu gehen, dass die Form des Beckens und die Konturen der Oberschenkel und der Kniee völlig verdeckte. Unterhalb des knöchellangen Rocksaumes konnte Xaverl die schlanken Fesseln Viktorias in den Schuhen mehr erahnen denn wirklich sehen. Er konnte ihr stundenlang zusehen, wie sich beim Singen – sie war die erste Sopranistin des Kirchenchores – ihre Brust beim Atmen hob und senkte. Und er hatte viel Gelegenheit, dies zu tun, denn er ließ sich oftmals einteilen, den Blasebalg für die Orgel zu betätigen. Das war zwar im Vergleich zu den Ministrantendiensten körperlich ungleich anstrengender und man war auch nicht im Abglanz des Altars, des Pfarrers, der heiligen Hostien und der glänzenden Monstranz, aber das war ihm egal, ihm war es Lohn genug, wenn er nur Viktoria verstohlen anstarren und bewundern durfte.

So gingen die Jahre ins Land. Xaver träumte davon, eines Tages Viktoria heiraten zu können. Der Altersunterschied dabei schien ihm nicht so wichtig, war doch Viktorias Vater auch erheblich jünger als ihre Mutter. Er hatte, obwohl er inzwischen durchaus im entsprechenden Alter war, keine Augen für andere Mädchen seines Alters. Er hatte nur Augen für Viktoria. Nachts lag er wach in seinem Bett und malte sich die schönsten Erlebnisse mit seiner Angebetenen aus.

Dann aber zerplatzten seine Tagträume wie eine Seifenblase. Nein, eigentlich mehr wie ein mit einer Nadel angestochener Luftballon, es tat in seinem Herzen einen lauten Knall. Viktoria – seine Viktoria – sollte die Frau seines Bruders Karl werden. Es waren eh zu viele Söhne auf dem Hof der Gabriels, da war es gut, wenn einer wegheiratete und ein eigenes Sach bekam und sein Bruder war nun mal älter als er und passte deswegen auch besser zur Viktoria. Sein Verstand konnte das gut nachvollziehen, aber sein Herz war schwer dabei. Immerhin konnte er aber auf die Weise seiner Viktoria als ihr Schwager nahe sein, das war immer noch besser, als wenn sie einen wildfremden Mann geheiratet hätte.

So zog das Frühjahr 1914 ins Land und Xaver half, so oft es ihm möglich war, mit auf dem Hof der Hinterkaifecker, der seit der Heirat zur Hälfte auch seinem Bruder gehörte. Er stellte aber schon bald fest, dass das Leben dort auf Hinterkaifeck – insbesondere das Leben seines Bruders dort – in keinster Weise dem entsprach, wie er sich das Leben des Bauern dort vorgestellt hatte. Der Vater von Viktoria, Andreas Gruber, führte, obwohl der Hof schon überschrieben war, immer noch das Regiment. Das beinhaltete, dass er über alle Vorgänge auf dem Hof eigenmächtig entschied, die Fruchtfolge festlegte, das weitere Vorgehen bezüglich des Viehs bestimmte, die technische Ausstattung ohne sich mit den jungen Bauersleuten zu besprechen erweiterte und – und das war das schlimmste in Xaverls Augen – sich weiterhin an seiner Tochter verging. Zunehmend belastete es Xaverl, was sich dort abspielte. Einerseits schämte er sich für seinen Bruder Karl, der offenbar nicht das Zeug besaß, mal ordentlich auf den Tisch zu hausen und ein für alle Mal klarzustellen, wer jetzt hier der Herr im Haus war. Andererseits tat ihm Viktoria so unendlich leid, die hin und hergerissen war zwischen dem Wunsch, ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein und ihrem Vater eine gehorsame Tochter. Xaverl zog sich also mehr und mehr aus dem Hof von Hinterkaifeck zurück und schob immer öfter vor, daheim in Laag unabkömmlich zu sein.

Aber auch an Karl gingen die Vorgänge nicht spurlos vorüber. Er wollte sogar eines Tages zurück nach Laag ziehen, denn er merkte, dass er sich nicht durchsetzen konnte. Damit waren aber seine Eltern ganz und gar nicht einverstanden, man hatte nicht viel Geld investiert, damit der Junge nicht besitzlos vor den Hinterkaifeckern da stand um es jetzt kampflos den Hinterkaifeckern zu überlassen. Karl fand aber eine gute Möglichkeit, sich dem Dilemma zu entziehen: er meldete sich freiwillig für den Kriegsdienst des gerade ausgebrochenen ersten Weltkrieges und war schon im August 1914 in einer Kaserne in Ingolstadt, fernab von allem Gerangel daheim. Im Dezember war seine Ausbildung abgeschlossen und er kam an die Front nach Frankreich, dort fiel er nur vier Tage später im Dezember 1914.

Die Geburt seiner Tochter im Januar 1915 erlebte er nicht mehr, es ist nicht mal sicher, ob er wusste, dass seine Frau schwanger war. Sie hatte es ihm jedenfalls nicht mitgeteilt, sie hat ihm gar keine Feldpost geschrieben. Im Hause Gabriel herrschte alles andere als reine Freude über das Enkelkindchen, denn Xaverl hat natürlich daheim erzählt, welche Zustände auf Hinterkaifeck herrschten. Ein direkter Nachfahre von Karl Gabriel konnte die Erbfolge des Hofes von Laag durcheinander wirbeln. Wäre Karl Gabriel kinderlos gefallen, hätte seine Ehefrau seinen damaligen Besitz geerbt, aber niemand hätte seine Finger nach dem Erbe von Viktorias Schwiegereltern ausstrecken können. Dieses Kind aber, das hatte die Macht dazu. Aber als ob das alleine nicht schon schlimm genug war, nein, zusätzlich konnte man nicht mal mit Sicherheit sagen, ob das Kind tatsächlich auch aus Karl Gabriels eigenem Fleisch und Blut bestand. Ebenso gut wäre es nämlich möglich, dass Cäzilia Gabriel ein Produkt aus dem inzestösen Verhältnis ihrer Mutter und ihrem Großvater war.

Karl Gabriel sen. sah sich gezwungen, dagegen anzugehen und zeigte Andreas Gruber und seine Tochter Viktoria Gabriel wegen Inzestes an. Bei der Gerichtsverhandlung sagte u. a. auch Xaverl Gabriel aus, was er auf dem Hof alles gesehen und erlebt hatte und dies reichte, um die beiden wegen Inzests zu verurteilen. Es reichte aber nicht, um Cäzilia Gabriel aus der Erbfolge der Gabriels aus Laag zu tilgen, denn ein ehelich geborenes Kind hat automatisch den Ehemann der Mutter zum Vater, unabhängig von genetisch tatsächlichen Gegebenheiten. Das ist übrigens bis zum heutigen Tage so, festgelegt im § 1592 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Unabhängig von all diesen persönlichen und privaten Unbilden drehte sich das Rad der Weltpolitik und damit des Weltkrieges unablässig weiter und so wurde 1915 auch Xaver Gabriel eingezogen.

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